"Die aktuelle Situation" geht auch Iris Wangermann mächtig an die Nieren. Sie fragt sich: Was hat das alles mit der Weitergabe von transgenerationalen Traumata zu tun?
Autorin und Bildquelle: Claudia Scholz
Ich kenne meine Eltern schon sehr lange. In etwa so lange, wie ich alt bin. Dachte ich. Tatsächlich muss ich feststellen, dass sich etwas getan haben muss. Eine schlimme Krankheit ist es nicht, die sie verändert hat. Beide sind gut versorgt, auch gesundheitlich. Altersbedingt gibt es die üblichen Zipperlein. Alzheimer ist nicht darunter. Nicht einmal das Vorhandensein von Corona – bei meinen Eltern und auch bei uns nicht.
Meine Eltern wohnen am Rande von Berlin im Einfamilienhaus, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Ich wohne eher zentral in Berlin in Charlottenburg, nicht weit vom Kudamm entfernt, mit Blick auf den Teufelsberg und das Olympiastadion, das alle Welt kennt.
Zwischen mir und meinen Eltern liegen ungefähr 25 Auto-Minuten. Als der erste Lock- und Shutdown beschlossen worden war – im März 2020, da hielten wir die Stimmung durch fleißiges Schreiben von Papier-Briefen aufrecht. Sie waren als Muntermacher gedacht. Kleine Ausflüge dorthin waren möglich, indem wir verabredeten, dass wir uns manchmal anlassbezogen in fröhlicher Distanz an frischer Luft bewegten und unterhielten – mit allen Maßnahmen, die nötig waren, um ein pflegliches Corona-Miteinander zu gewährleisten.
Die Anlässe waren der Muttertag und die Geburtstage. Keiner verreiste irgendwohin. Niemand ging unnötige Risiken ein und leckte vom Löffel des anderen ab oder umarmte sich gar zum Abschied.
Die dramatische Wende kam mit dem zweiten Lockdown. Es war Mitte Dezember und Nachrichtensendungen wie die Damen und Herren von der „tagesschau“ rattern mit ernster Miene die neuen Werte herunter: 50 Neu-Infizierte bei 100.000 Einwohner in 7 Tagen, die Ampel stand auf „rot“. RKI-Wert und prozentuale Darstellung von Infizierten, Genesenen und Sterberate waren out.
Meine Eltern haben urplötzlich alles abgesagt - gefühlt auch der Freude am Leben. Die Worte meines Vaters waren: "Hast du nicht gehört? Wir sterben alle, die an Corona erkranken. Der mutierte Virus ist bis zu 70 Prozent ansteckender und gefährlicher. Wir sollen zu Hause bleiben. Und am besten bleibst du das auch." Es war, als hätte man „Weihnachten“ und dem Leben lebe-wohl gesagt! Ein Ort ohne Wiederkehr?
Was war passiert? Ich weiß es nicht. Ich kann mir das nur so zusammenreimen:
Seit Monaten gibt es außerhalb von Nachrichten über Corona und (bevorstehendem) Lockdown keine anderslautenden Nachrichten mehr. Fußballvereine spielen weiterhin vor leeren Zuschauerrängen. Zufällig gehören Fußball und am politischen Leben teilnehmen zu den Leidenschaften meines Vaters. Gleichfalls haben Kinos, Theater, die Konzert- und Opernhäuser – einfach alles, was ein kleines Vergnügen verspricht, - geschlossen. Von Ferien oder kulinarischen Reisen wollen wir gar nicht erst zu träumen anfangen. Sportliche Ereignisse wie die Langstreckenläufe, an der sich Tausende beteiligen und ihren Trainingserfolg an den besten Läufern messen, sind bis auf Weiteres eingestellt. Ganze Branchen schließen. Und nicht nur sie fühlen sich ihrer Daseinsberechtigung enthoben.
Ein Ende ist nicht in Sicht. Und das soll keine Angst machen? Da stehe ich nun und bleibe traurig zurück.
Gedanken zum Thema Angst, Glück, Coronavirus und uns Menschen - ein Beitrag von Petra Büeler aus der Schweiz:
Das möchte ich noch nachschieben.
Was dieser Artikel außer Acht lässt, ist, dass es sich bei meinem Vater um einen Menschen handelt, der den 2. Weltkrieg in Gänze durchlebt hat - inklusive der Gefangenschaft in Russland. 1955 erst wurde er wieder freigelassen. Er hat sicher gehofft, dieser Angst nicht mehr begegnen zu müssen. Und doch ist sie wieder da. Welche Angst ist das? Angst vor einem Fehltritt? Angst unangepasst zu sein? Angst vor Konsequenzen?
Nun ist sie wieder da: diese unbeschreibliche Angst. Und im engsten Familienkreise kann ich sehen, was sie mit uns macht.
"Die aktuelle Situation" geht auch Iris Wangermann mächtig an die Nieren. Sie fragt sich: Was hat das alles mit der Weitergabe von transgenerationalen Traumata zu tun?
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